lebendige augenblicke
Je länger ich über Fabienne Pakleppas Gedichte nachdenke, desto kürzer werden meine Gedanken. Die siebzehn Silben habe ich längst unterschritten. Vielleicht befinde ich mich schon in jenem legendenumwobenen Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft, in dem wohl unser Leben stattfindet.
Dichte Gedichte: Sehr viel Leben auf sehr wenig Raum. Man möchte an einen Schmetterlingssammler denken, der Falter auf Nadeln spießt, oder an ein Chamäleon mit klebriger Zunge, das sie schnappt und verschluckt – aber letzten Endes, bei all ihrer Studierfreudigkeit und all ihrem Hunger, lässt Fabienne die Momente fast unbehelligt verflattern.
Das ist sehr „Zen“, wie es sich für Haiku gehört; Erleuchtung kommt dabei schmerzhaft, etwa in Gestalt eines Bienenstichs, und bleibt heilbar – durch feingewürztes Fließbandkalb, Scherben, Tulpen, Männer. Es sind stille Töne, winzige leise Geschichten, mit einer Stimme erzählt, die viel Kraft zum Schreien hat, und die gerne lacht. „Hai-ku“ heißt wörtlich soviel wie „amüsanter Satz“, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Unaufgeregt und aufmerksam (und sicher auch manchmal aufgeregt und blindwütig) hat Fabienne Pakleppa sechs Jahre lang ihr Leben gelebt und Siebzehnsilber dabei geschrieben. Daraus entstand dieses Buch.
Hört man „Haiku“, denkt man zunächst an Kontemplation, an Einsiedler, die Frösche betrachten, an Bashōs „schmalen Weg ins Innere“, den jeder für sich alleine beschreiten muss. Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass sich der Haiku aus dem „Hokku“ (Anfangssatz) verselbstständigt hat, der Eröffnung eines „Renga“, eines gemeinschaftlichen Kettengedichts. Dieses poetische Gesellschaftsspiel, das oft so laut und betrunken wurde, dass die Nachbarn schimpften (oder mitspielen kamen), hat Jahrtausende überdauert. Immer folgte es strengen, komplizierten Regeln und doch war alles erlaubt – von der mondbeschienenen Kirschblüte bis zu altjapanischem Dadaismus und verzwickter Pornografie.
Zusammen mit dem Buchhersteller Herbert Woyke hat Fabienne Pakleppa eine Art interdisziplinäres Renga angestoßen: Auf nicht ganz quadratische Seiten gestreut, vertraut sie ihre Haiku vielen Mitspielern an, die „weitermachen“, indem sie – völlig frei, nur durch das Format gebunden – die Umschläge gestalten. Künstlerinnen und Künstler sowie Teilnehmer therapeutischer und sozialer Kunstprojekte verwandeln die bedruckten Seiten in Unikate, die ihrerseits alle haikuwürdig sind: lauter papierene, lebendige Augenblicke.
Christine Wunnicke